Was sind die klassischen Alarmzeichen?
Dass die Corona-Pandemie noch immer auf der Seele von zahlreichen Kindern und Jugendlichen lastet, ist längst bekannt. Die Politik versucht bereits auf die besorgniserregende Situation zu reagieren. Lesen Sie hierzu unseren Blogartikel „Hinterlassenschaften der Pandemie: Psychosoziale Folgen für Kinder und Jugendliche".
Was aber können die Mitmenschen der Betroffenen wie Eltern, Lehrer*innen, Familie und Freund*innen tun?
Zunächst einmal ist es wichtig, auf die klassischen Alarmzeichen zu achten. Dabei gilt es zu unterscheiden, ob der*die Jugendliche in akuter Not ist, mal einen schlechten Tag hat oder sich in einer länger andauernden Krise befindet. Auch sollte das Umfeld und die aktuelle Lebenssituation des Kindes im Blick behalten werden, wie z.B. der Leistungsdruck in der Schule, Kontakte zu Gleichaltrigen, Medienkonsum oder familiäre Belastungen.
Ein junger Mensch, der sich direkt an eine Bezugsperson wendet und um Hilfe bittet, sollte in jedem Fall ernst genommen werden, denn dieser Schritt kann bereits ein Alarmzeichen sein. Die meisten Kinder und Jugendlichen verheimlichen ihre Gefühle oder vertrauen sich erst einmal Gleichaltrigen an.
Ein Indiz für eine psychische Belastung kann der Rückzug aus sozialen Situationen und alterstypischen Aktivitäten sein. Ein Kind, das nicht mehr zur Schule gehen will, sollte Eltern hellhörig werden lassen. Selbiges gilt, wenn es urplötzlich die heißgeliebten Hobbys schwänzt, sich nicht mehr mit Freund*innen verabreden will oder sich aus dem Familienleben zurückzieht.
Auch wiederkehrende körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Herzrasen, Schweißausbrüche und Kopfschmerzen können psychische Ursachen haben. Daneben sollten Betreuende und Angehörige auf Alarmzeichen wie Antriebslosigkeit, Unentschlossenheit, Niedergeschlagenheit und Lethargie achten. Aber auch gegenteilige Symptome wie Aggressionen, Reizbarkeit, Unruhe und übermäßiger Bewegungsdrang können Anzeichen einer psychischen Überlastung sein.
Besonders alarmierend ist selbstverletzendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Sollte dies öfter als einmal im Quartal auftreten, ist dringend psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Selbstverständlich sind auch Alkohol- und Drogenmissbrauch als Warnzeichen ernst zu nehmen. Nicht zuletzt ist zu beobachten, ob die Betroffenen immer wieder in negative Gedankenspiralen verfallen, Hoffnungslosigkeit verspüren, keine Freude mehr empfinden können oder gar Suizidgedanken haben.
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Stimme aus dem Seminar
Was sollten Eltern beachten?
Damit sich die Kinder und Jugendlichen nicht allein gelassen fühlen und den Mut fassen können, sich zu offenbaren, ist ein Klima von Wertschätzung und Offenheit innerhalb der Familie essenziell. Auch Eltern sollten den Mut haben, offen ihre eigenen Sorgen und Ängste zu teilen – nicht jedoch ohne gleichzeitig über Lösungsansätze zu sprechen. Wichtig ist es, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass die Familie auch in schwierigen Situationen zusammenhält. Gemeinsame Mahlzeiten, regelmäßige Unternehmungen und Rituale tragen wesentlich zu einem positiven Familienklima bei und können Kinder resilienter machen.
Seelische Beeinträchtigungen sollten grundsätzlich ernst genommen und respektvoll behandelt werden. Sie unter den Tisch zu kehren, als Schwäche abzutun oder gar abzuwerten, kann in eine gefährliche Sackgasse führen. Nach Möglichkeit sollten Eltern ein positives Vorbild im Umgang mit psychischen Belastungen sein.
Bei Überforderung ist es ratsam, sich professionelle Hilfe von außen zu suchen. Das muss nicht immer gleich der Gang zum*zur Psychotherapeuten*in sein. Auch niedergelassene Beratungsstellen sowie Lehrer*innen oder Schulsozialarbeiter*innen können hilfreiche Unterstützung bieten. Im Fall einer Selbst- oder Fremdgefährdung jedoch ist umgehend ein psychiatrischer Notdienst oder der Rettungsdienst (112) zu alarmieren.
Besonders niedrigschwellig sind Online- und Telefonangebote. Diese reichen von Selbsthilfe-Chatgruppen, in denen sich die Betroffenen untereinander austauschen, über ehrenamtliche Seelsorger*innen bis hin zu professionellen Krisendiensten, in denen ausgebildete und erfahrene Fachkräfte arbeiten. Die meisten dieser Angebote sind anonym und daher für viele Kinder und Jugendliche ein Türöffner, um erstmals über ihre Situation zu sprechen.
Eine Liste von Anlaufstellen ist am Ende dieses Artikels zu finden.
Eltern sollten sich jedoch im Klaren darüber sein, dass Beratungsangebote keine Psychotherapie ersetzen können. Sollte im Ernstfall therapeutische Hilfe vonnöten sein, können die Erstanlaufstellen in der Regel weitervermitteln. An dieser Stelle sollte jedoch nicht verschwiegen werden, dass derzeit in Deutschland zahlreiche Therapieplätze für Kinder und Jugendliche fehlen und mit monatelangen Wartezeiten gerechnet werden muss.
Was können Lehrkräfte tun?
Die zuständigen Minister*innen der Bundesregierung haben jüngst einige Maßnahmen vorgestellt, mit denen sie die Schulen aktiv unterstützen wollen. Unter anderem sollen Mental Health Coaches eingesetzt, Infomaterial ausgeteilt und das Thema psychische Gesundheit in den Unterricht integriert werden, vgl. hierzu unseren Blogartikel „Hinterlassenschaften der Pandemie: Psychosoziale Folgen für Kinder und Jugendliche“.
Doch wie können Lehrkräfte ganz konkret auf die psychischen Belastungen ihrer Schüler*innen reagieren und sie mental stärken?
Ein Problem ist, dass Lehrer*innen und Schulen in erster Linie dazu angehalten werden, die Lernrückstände nach der Pandemie wieder aufzuholen. Der Druck für die Schüler*innen steigt also enorm und kann zusätzlich belastend sein. Umso wichtiger ist es, den Fokus auf das zu richten, was trotz Pandemie geleistet wurde und welche positiven Lehren sich aus dieser schwierigen Zeit ziehen lassen. Eine Erkenntnis kann z.B. die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts sein und die Wichtigkeit, einander nicht aus dem Blick zu verlieren. Gruppendynamische Übungen, soziales Lernen oder soziale Aktivitäten sind in postpandemischen Zeiten wichtiger denn je geworden.
Ein vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis zu den Kindern und Jugendlichen ist das A und O. Die Schüler*innen sollten das Gefühl haben, gesehen, aber nicht ‚kontrolliert‘ zu werden. Dabei geht es um ein empathisches Wahrnehmen des Gegenübers, das sich nicht nur auf das Offensichtliche bezieht, sondern subtile Emotionen berücksichtigt, die sich in der Körpersprache widerspiegeln. In der therapeutischen Arbeit wird auch von „Spürender Begegnung“ gesprochen.
Ebenso hilfreich kann es sein, das Thema mentale Gesundheit im Klassenverband zu thematisieren, damit psychische Probleme und Erkrankungen nicht länger stigmatisiert werden. Die Angst mental belasteter Kinder und Jugendlicher vor Diskriminierung und Ausgrenzung sollte nicht unterschätzt werden. Umso wichtiger ist es, die Schüler*innen darauf aufmerksam zu machen, dass die Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe genauso normal sein kann wie der Gang zum Hausarzt. Psychologische Aufklärung sollte jedoch keine ‚Belehrung‘ sein, sondern interaktiv gestaltet werden. Dabei ist entscheidend, den Schüler*innen zuzuhören und ihnen Fragen zu stellen, um ein Gefühl für Hemmschwellen und Vorurteile sowie für die Sorgen, Ängste und Bedürfnisse der Kinder zu kriegen.
Im Rahmen der Thematisierung mentaler Gesundheit ist es wichtig zu betonen, dass es Hoffnung und Hilfe gibt. Lehrer*innen sollten in regelmäßigen Abständen auf interne und externe Hilfsangebote aufmerksam machen. Das gilt auch und gerade für niedrigschwellige Lösungen, indem man beispielsweise selbst Hilfe anbietet oder eine*n Vertrauenslehrer*in empfiehlt. Auch ein anonymer schulinterner Chat oder Kummerkasten kann eine erste Anlaufstelle sein. Nicht zuletzt sollten die Angebote z.B. auf der Schulhomepage oder über andere Kanäle ‚beworben‘ werden.
Um Hemmschwellen abzubauen ist zudem empfehlenswert, regelmäßig Mitarbeiter*innen von Hilfsangeboten einzuladen, damit diese sich den Eltern, Lehrer*innen und Schüler*innen vorstellen können. Lehrkräfte und Schulleiter*innen sollten außerdem einen ‚heißen Draht‘ zu Kinder- und Jugendärzt*innen, Psychiatern und Psycholog*innen aufbauen, um sich in konkreten Fällen rückversichern oder akute Hilfe anfordern zu können.
Ein wesentlicher Punkt, der häufig unterschätzt wird, ist die Selbstfürsorge der Lehrer*innen. Bei den unzähligen Aufgaben und Herausforderungen, die auf den Lehrkräften lasten, bleibt hierfür meist zu wenig Raum. Die eigene mentale Gesundheit ist jedoch keine Selbstverständlichkeit und sollte daher nicht vernachlässigt werden. Immerhin sind mentale Ressourcen essenziell, um anderen Menschen nachhaltig helfen zu können. Es lohnt sich also, sich über resilienzfördernde Praktiken zu informieren, die in den Alltag integriert werden können, wie z.B. Achtsamkeits- oder Entspannungsübungen.
Wenn Sie sich dafür interessieren, wie Sie die Resilienz bei Kindern und Jugendlichen in den verschiedenen Entwicklungsphasen stärken können, empfehlen wir Ihnen unsere Weiterbildung zum Resilienzcoach für Kinder und Jugendliche.
Welche Anlaufstellen gibt es?
Keine Frage – das Internet ist Informationsquelle Nummer eins für Kinder und Jugendliche. Hier finden sich eine Reihe von Hilfsangeboten, die nicht nur niedrigschwellig sind, sondern auch Anonymität garantieren und damit den Hemmungen vieler Betroffener entgegenkommen.
Wenn professionelle Hilfe vor Ort gefragt ist, sind die folgenden Anlaufstellen mit ihren unterschiedlichen Kompetenzbereichen hilfreich. Wenn nötig, können diese auch untereinander weitervermitteln:
Kinder- und Familienberatungsstellen
- Anlaufstelle, wenn es um Probleme im sozialen Umfeld des*der Betroffenen sowie um Familien- und Erziehungsfragen geht
Hausärzt*innen oder Kinder- und Jugendärzt*innen
- Anlaufstelle, wenn es um körperliche Symptome geht, die auf eine psychische Belastung hindeuten
Psycholog*innen
- Anlaufstelle, wenn es um den Umgang mit einer psychischen Krise oder Erkrankung geht
Kinder- und Jugendtherapeut*innen
- Anlaufstelle, wenn es um die Diagnose und Behandlung psychischer und psychosomatischer Störungen geht
Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie
- Anlaufstelle, wenn es sowohl um die Diagnose psychischer Erkrankungen als auch um die Verschreibung von Medikamenten sowie die Entscheidung für eine ambulante, stationäre oder tagesklinische Behandlung geht
Rehabilitationsangebote für Kinder und Jugendliche
- Anlaufstelle, wenn es um die Behandlung und Vorbeugung chronischer Erkrankungen sowie die Wiedereingliederung in den Schul- und Familienalltag geht
Inzwischen gibt es auch einige Präventionsprogramme und Fortbildungen zur psychischen Gesundheit an Schulen:
- Der Verein Irrsinnig Menschlich e.V. bringt das Thema „Seelische Gesundheit“ durch präventive Maßnahmen in die Schulen und bietet u.a. Workshops für Lehrer*innen und Schüler*innen an
- MindMatters ist ein Programm zur Förderung der Gesundheit in und mit Sekundarschulen
- SNAKE ist ein Anti-Stress-Trainingsprogramm der Universität Bielefeld, das sich an Jugendliche richtet
- Lebenslust mit LARS & LISA ist ein Trainingsprogramm für Jugendliche der Sekundarstufe I
- Das Projekt Gesundheit und Optimismus (GO!) der TU Dresden befasst sich mit Prävention von Stress, Angststörungen und Depressionen
In dem Schwerpunkt RE:GENERATION bietet das Institut für Bildungscoaching eine Reihe von Weiterbildungen und kostenlosen Events zum Thema „psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen“ an, die sich explizit an Fachkräfte aus dem psychosozialen und pädagogischen Bereich richten. Mehr dazu erfahren Sie hier.